Tag 2 | 07.10.2025
Historische Retrospektive Teil I
Von den Anfängen der Armenfürsorge bis zum Sozialstaat der Weimarer Republik
Felix Niemann, B.A.
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Themen des Tages
- Vorstaatliche Fürsorge: Moral, Arbeitsethos und Kontrolle
- Die „Soziale Frage“ & die Geburt der Freien Wohlfahrtspflege
- Die Trennung von Armen- und Arbeiterpolitik
- **Gruppenarbeit: Quellenanalyse & Leitbild-Entwicklung**
- Bismarcks Doppelstrategie: „Zuckerbrot & Peitsche“
- Die Entstehung der Sozialversicherung im Detail
- Der erste demokratische Sozialstaat: Die Weimarer Republik
- Meilensteine der Weimarer Sozialpolitik
Lernziele des Tages
- ... die historischen Wurzeln der heutigen dualen Wohlfahrtsstruktur erklären.
- ... die Motive hinter der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung differenziert analysieren.
- ... die fundamentalen Prinzipien der deutschen Sozialversicherung herleiten.
- ... die Bedeutung der Weimarer Verfassung für die Etablierung sozialer Grundrechte bewerten.
Vorstaatliche Fürsorge: Arbeitsethos und soziale Kontrolle
Mit der Auflösung der feudalen Ordnung im Übergang zur Neuzeit wurde Armut zu einem öffentlichen Problem, das nicht mehr nur durch kirchliche Almosen gelöst werden konnte. Die Reformation spielte eine entscheidende Rolle bei der Neubewertung von Arbeit und Armut.
„Es sollte niemals jemand unter den Christen betteln gehen, es wäre auch leicht eine Ordnung drob zu machen [...]. Nämlich, daß eine jegliche Stadt ihre armen Leute versorgte und keinen fremden Bettler zuließe [...]. So könnte man auch feststellen, welche wahrhaftig arm wären oder nicht.“
- Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520)
Neues Arbeitsethos
Luther begreift Arbeit als "vollzogenes Tun Gottes". Müßiggang wird zur Sünde. Diese protestantische Arbeitsethik schafft die kulturelle Grundlage für die Disziplinierung der Arbeitskraft, die der aufkommende Kapitalismus benötigt.
Instrumente der Kontrolle
Die Städte reagierten mit **Bettelordnungen** und **Arbeitshäusern**. Hilfe war untrennbar mit Disziplinierung und der Unterscheidung in "würdige" und "unwürdige" Arme verbunden.
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Die historische Unterscheidung zwischen "verdienter" und "unverdienter" Armut ist eine der tiefsten Wurzeln sozialarbeiterischer Dilemmata. Sie zeigt sich heute in Debatten um Mitwirkungspflichten und Sanktionen in den Mindestsicherungssystemen (z.B. SGB II).
Die „Soziale Frage“ & die Geburt der Freien Wohlfahrtspflege
Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert schuf nie dagewesenes Elend (Pauperismus). Die staatliche Reaktion ließ auf sich warten. Die erste, massive Antwort kam aus der Zivilgesellschaft selbst – die Geburtsstunde der **Freien Wohlfahrtspflege**, dem heutigen Hauptträgerfeld der Sozialen Arbeit.
Die konfessionellen Antworten
Johann H. Wichern gründet das "Rauhe Haus" und ruft die **Innere Mission** (Diakonie) ins Leben. Bischof von Ketteler und Adolph Kolping legen die Grundlagen für die **Caritas**.
Die Antwort der Arbeiterbewegung
Arbeiter gründeten aus Solidarität eigene **freie Hilfskassen**, um sich gegenseitig bei Krankheit oder Tod abzusichern. Dies war eine Form der Selbstorganisation von unten.
Die bürgerliche Philanthropie
Zahlreiche Privatpersonen und bürgerliche Vereine engagierten sich aus sozialer Verantwortung, gründeten Stiftungen und forderten Reformen.
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Das heutige **duale System** aus öffentlichen Trägern (z.B. Jugendamt) und freien Trägern (Diakonie, Caritas, AWO etc.) ist ein direktes Ergebnis dieser historischen Entwicklung. Das im SGB verankerte **Subsidiaritätsprinzip**, das den freien Trägern Vorrang einräumt, basiert auf dieser Tradition.
Die Trennung von Armen- und Arbeiterpolitik
Im 19. Jahrhundert bildeten sich zwei getrennte Stränge der sozialen Intervention heraus, deren unterschiedliche Logik das deutsche System bis heute prägt.
Armenpolitik (Fürsorge)
- Zielgruppe: Die nicht arbeitsfähigen, "würdigen" Armen, Ausgestoßenen.
- Logik: Hilfe bei individueller Bedürftigkeit, moralische Bewertung, Kontrolle, Disziplinierung.
- Beispiel: Das **Elberfelder System** (ab 1852) als Versuch einer rationalisierten, dezentralen und ehrenamtlichen Armenfürsorge.
Arbeiterpolitik (Versicherung)
- Zielgruppe: Die (qualifizierte) Arbeiterschaft.
- Logik: Kollektive Risikoabsicherung, Rechtsanspruch durch Beitrag, Erhalt der Arbeitskraft.
- Beispiel: Paternalistische **betriebliche Sozialpolitik** (z.B. Krupp), die Loyalität im Gegenzug für soziale Leistungen wie Werkswohnungen forderte.
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Diese historische Trennung erklärt, warum wir heute in Deutschland ein zweigeteiltes System haben: Die beitragsfinanzierte Sozialversicherung (SGB III, V, VI etc.) für die Arbeitnehmerschaft und die steuerfinanzierte, bedarfsgeprüfte Fürsorge (SGB II, XII) als "letztes Netz".
Gruppenaufgabe (90 Min.): Quellenanalyse & Leitbild-Entwicklung
Szenario & Quelle (1848)
Sie lesen zur Vorbereitung einen Auszug aus der berühmten Rede von Johann Hinrich Wichern:
„[...] Nicht um die Erörterung der Systeme handelt es sich hier, sondern um die Rettung von Menschen [...]. Die Liebe gehört Christus, und darum soll sie sich der ganzen, der vollen, der ungeteilten Menschennatur annehmen, um sie zu retten und selig zu machen. Nicht um einzelne Werke der Barmherzigkeit handelt es sich, sondern um die organisierte Liebe, um die Innere Mission als die rettende Tat der Kirche.“
(Frei zusammengefasst und verdichtet nach J. H. Wichern, 1848)
Ihr Auftrag: Analysieren Sie & entwickeln Sie ein Leitbild!
Leitfragen für Ihre Analyse:
- **Analyse:** Welches Menschenbild und welche Ursachen für Armut schwingen in Wicherns Worten mit? Geht es ihm primär um materielle Not oder um etwas anderes?
- **Verknüpfung:** Inwiefern spiegelt dieser Aufruf die historische Trennung von "Armenpolitik" und "Arbeiterpolitik" wider?
- **Transfer:** Wo sehen Sie in diesem Text die historischen Wurzeln des "doppelten Mandats" (Helfen vs. Kontrollieren/Normieren)?
- **Entwicklung:** Formulieren Sie nun 3 Leitsätze für Ihre eigene fiktive soziale Einrichtung (z.B. ein "Rettungshaus"). Übernehmen Sie Wicherns Perspektive, formulieren Sie einen Gegenentwurf oder eine Synthese?
Bismarcks Doppelstrategie: Zuckerbrot & Peitsche
Reichskanzler Otto von Bismarck sah die erstarkende Arbeiterbewegung als Bedrohung für den monarchischen Staat. Seine Reaktion war eine duale Strategie der Repression und Integration.
Die Peitsche repressiv
Das **"Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (Sozialistengesetz, 1878)** verbot alle sozialdemokratischen Organisationen und Publikationen. Ziel war die politische Zerschlagung der Arbeiterbewegung.
Das Zuckerbrot - integrativ
Die **Einführung der Sozialversicherungen** sollte die Arbeiter materiell absichern und emotional an den Staat binden, um sie der Sozialdemokratie zu entfremden.
"Wir würden mit um so größerer Befriedigung [...] zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens [...] zu hinterlassen." (Aus der Kaiserlichen Botschaft, 1881)
Die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung im Detail
Gesetzliche Krankenversicherung (1883)
Gesetzliche Unfallversicherung (1884)
Invaliditäts- & Altersversicherung (1889)
Vier prägende Merkmale:
- **Pflichtversicherung:** Zwangszugehörigkeit für den definierten Personenkreis (Arbeiter).
- **Beitragsfinanzierung:** Leistungen werden durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert (Ausnahme: Unfallversicherung).
- **Selbstverwaltung:** Die Träger (Kassen) werden von Vertretern der Versicherten und Arbeitgeber verwaltet.
- **Starke Koppelung an Erwerbsarbeit:** Nur wer arbeitet und Beiträge zahlt, erwirbt Ansprüche ("Lohnarbeitszentrierung").
Der erste demokratische Sozialstaat: Die Weimarer Republik (1919-1933)
Nach dem Ende des Kaiserreichs wurde der Sozialstaat auf eine neue, demokratische Grundlage gestellt. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 war ein Meilenstein, da sie erstmals umfassende soziale Grundrechte als Staatsziele verankerte.
**Art. 151 WRV:** "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen."
**Art. 161 WRV:** "...schafft das Reich ein **umfassendes Versicherungswesen** unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten."
Trotz der enormen Belastungen durch Kriegsfolgen, Inflation und Weltwirtschaftskrise gelangen wichtige sozialpolitische Meilensteine, die den Sozialstaat ausbauten und die Soziale Arbeit als Profession etablierten.
Meilensteine der Weimarer Sozialpolitik
Vervollständigung der Sozialversicherung
Mit der Einführung der **Arbeitslosenversicherung (1927)** wurde die letzte große Lücke bei der Absicherung der typischen Arbeitnehmerrisiken geschlossen. Der Sozialstaat wurde umfassender.
Einheitliche Rechtsgrundlagen
Das **Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922)** und die **Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht (1924)** schufen erstmals deutschlandweit einheitliche Standards für die Jugend- und Sozialhilfe und stärkten die Rolle der freien Träger.
Professionalisierung der Sozialen Arbeit
In dieser Zeit wurde die Soziale Arbeit als eigenständiger Beruf anerkannt. **Alice Salomon** gründete 1925 die "Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit" und legte mit Werken wie "Soziale Diagnose" (1926) die theoretischen Grundlagen für professionelles Handeln.
Das Scheitern in der Krise
Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte zu Massenarbeitslosigkeit, die das neue System der Arbeitslosenversicherung sprengte. Massive Leistungskürzungen und Verelendung trugen entscheidend zur Destabilisierung der Demokratie und zum Aufstieg des Nationalsozialismus bei.
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 2.4 "Konsolidierung und Ausbau des Sozialstaats in der Weimarer Republik" (S. 43-55).
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Montag, 13.10.2025**, befassen wir uns mit der jüngeren Geschichte:
"Historische Retrospektive Teil II: Diktatur, Wiederaufbau und soziale Reformen"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!