VL Sozialpolitik | WiSe 25/26

Tag 3 | 13.10.2025

Historische Retrospektive Teil II

Diktatur, Wiederaufbau und soziale Reformen

Felix Niemann, B.A.

Heutige Agenda & Lernziele 📝

Themen des Tages

  1. Die "völkische Sozialpolitik" im Nationalsozialismus
  2. Die Soziale Arbeit als Instrument der Ausgrenzung
  3. "Stunde Null" und die Restauration des Sozialstaats
  4. Verfassungsgrundlagen: Sozialstaatspostulat & Soziale Marktwirtschaft
  5. Exkurs: Das Rentensystem vor 1957 – Garant für Altersarmut
  6. Meilenstein I: Die dynamische Rente (1957)
  7. Meilenstein II: Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961
  8. **Gruppenarbeit: Kontroversen-Debatte zum BSHG**
  9. Die sozialliberale Ära: Expansion und Reformen

Lernziele des Tages

  • ... die rassistische Logik der NS-Sozialpolitik und die Verstrickung der Sozialen Arbeit analysieren.
  • ... die Weichenstellungen der Nachkriegszeit für den bundesdeutschen Sozialstaat bewerten.
  • ... das Funktionsprinzip und die Probleme des Rentensystems vor 1957 erklären.
  • ... die Bedeutung des BSHG von 1961 für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit kritisch reflektieren.
  • ... die sozialpolitische Aufbruchsstimmung der sozialliberalen Ära nachvollziehen.

Die Perversion des Sozialen im Nationalsozialismus (1933-1945)

Die NS-Diktatur ersetzte die Prinzipien der Solidarität und Gleichheit durch eine rassistische, exkludierende **"völkische Sozialpolitik"**. Soziale Leistungen waren nicht mehr an die Staatsbürgerschaft, sondern an die Zugehörigkeit zur "Volksgemeinschaft" geknüpft.

Zerschlagung & Gleichschaltung

Gewerkschaften wurden zerschlagen und durch die **Deutsche Arbeitsfront (DAF)** ersetzt. Die Freie Wohlfahrtspflege wurde aufgelöst oder "gleichgeschaltet". Die **Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)** wurde zur zentralen, parteigesteuerten Massenorganisation.

Ausgrenzung & Vernichtung

Sozialpolitik wurde zum Instrument der Rassenhygiene. Jüd*innen, Sinti*zze und Rom*nja, politisch Oppositionelle, Homosexuelle sowie Menschen mit Behinderungen wurden systematisch aus allen Sozialleistungen ausgeschlossen, verfolgt und ermordet ("Euthanasie").

Soziale Arbeit als Instrument der Ausgrenzung

Die NS-Zeit ist die dunkelste Stunde der deutschen Sozialen Arbeit. Statt als Anwältin für Hilfebedürftige zu agieren, wurde die Profession in Teilen zu einem willfährigen Instrument der Selektion und Verfolgung.

Das **"Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"** führte zu hunderttausenden Zwangssterilisationen. Die Gutachten dafür wurden oft von Ärzt*innen und Fürsorger*innen in den damaligen Gesundheits- und Jugendämtern erstellt.

"Asoziale" und "Arbeitsscheue"

Menschen, die nicht der disziplinierten Arbeitsnorm der "Volksgemeinschaft" entsprachen (Wohnungslose, Bettler*innen, Alkoholiker*innen), wurden als "Asoziale" stigmatisiert, in Arbeitshäuser gesperrt und in Konzentrationslager deportiert. Auch hier wirkten Fürsorger*innen bei der Erfassung und Klassifizierung mit.

Die NSV als Kontrollinstanz

Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) war keine an den Bedürfnissen orientierte Hilfsorganisation. Ihre Leistungen (z.B. "Winterhilfswerk") dienten der Propaganda und der sozialen Kontrolle. Wer Hilfe erhielt, wurde auf seine politische Linientreue und "rassische Wertigkeit" überprüft.

Ethische Reflexion für die Soziale Arbeit

Die Verstrickung der Profession in die Verbrechen des NS-Regimes begründet die bis heute andauernde ethische Verpflichtung, wachsam gegenüber staatlichen Vereinnahmungsversuchen zu sein und die unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen zu verteidigen.

Exkurs: Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)

Die NSV war nach der Deutschen Arbeitsfront (DAF) die zweitgrößte Massenorganisation im NS-Staat und das zentrale Instrument zur Umsetzung der "völkischen Sozialpolitik". Sie war direkt der NSDAP unterstellt und wurde zum Propagandainstrument des Regimes.

Ziele und Methoden unter Erich Hilgenfeldt

Portrait Erich Hilgenfeldt

Erich Hilgenfeldt (1897-1945?)

Leiter des Hauptamtes für Volkswohlfahrt der NSDAP und der NSV ab 1933.

Quelle: Von Hauptamt für Volkswohlfahrt, Fototechn. Abt. - E. Kienast (Hg.): Der Großdeutsche Reichstag 1938, IV. Wahlperiode, R. v. Decker´s Verlag, G. Schenck, Berlin 1938, PD-§-134

Unter Hilgenfeldts Führung, und mit der propagandistischen Unterstützung von Joseph Goebbels, verfolgte die NSV ein Doppelziel:

  • **Propaganda & soziale Kontrolle:** Aktionen wie das **"Winterhilfswerk" (WHW)** und der **"Eintopfsonntag"** simulierten eine fürsorgliche "Volksgemeinschaft". Dies diente der sozialen Kontrolle und erzeugte Druck zur Systembeteiligung.
  • **Rassenhygiene & Leistungssteigerung:** Insbesondere das **"Hilfswerk Mutter und Kind"** förderte gezielt "erbgesunde", "arische" und kinderreiche Familien. "Minderwertige" wurden von Leistungen ausgeschlossen und der Verfolgung preisgegeben.
Propagandaplakat der NSV

Quelle: Ludwig Hohlwein - facinghistory.org

Abzeichen der NSV

Quelle: Bundesarchiv

NSV-Schwestern im Einsatz

Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2003-0053 / CC-BY-SA 3.0

Die Rolle der "NS-Schwester" und "Volkspflegerin"

Die NSV schuf neue Berufsbilder. Die "braune Schwester" war nicht nur Helferin, sondern auch Kontrolleurin und Erzieherin im Sinne des Regimes. Sie überwachte die "rassische" und gesundheitliche Eignung von Familien und verbreitete die NS-Ideologie.

"Stunde Null" und die Restauration des Sozialstaats (1945-1949)

Nach 1945 stand Deutschland vor einer humanitären Katastrophe. Die erste Aufgabe war die reine Nothilfe. Bei der Neugründung des Sozialstaats stand eine zentrale Wegscheide an: Ein radikaler Neuanfang oder die Wiederherstellung der alten Strukturen?

Die zentrale Weichenstellung war die **Entscheidung gegen eine einheitliche "Volksversicherung"** für alle Bürger*innen (wie in Großbritannien) und **für die Restauration** des gegliederten Sozialversicherungssystems der Weimarer Zeit.

Diese Entscheidung, maßgeblich von Konrad Adenauer und den wiederhergestellten Selbstverwaltungsgremien vorangetrieben, zementierte die starke Koppelung sozialer Sicherung an die Erwerbsarbeit, die unser System bis heute kennzeichnet.

Die Verfassungsgrundlagen: Grundgesetz und Soziale Marktwirtschaft

Das Grundgesetz von 1949 legte das Fundament für den neuen bundesdeutschen Sozialstaat.

Das Sozialstaatsprinzip

In **Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes** wird die Bundesrepublik als "demokratischer und sozialer Bundesstaat" bzw. "sozialer Rechtsstaat" definiert. Dies ist ein Gestaltungsauftrag an die Politik, für sozialen Ausgleich und soziale Sicherheit zu sorgen.

Die Soziale Marktwirtschaft

Dieses Konzept war der wirtschaftspolitische Kompromiss der Nachkriegszeit: **"So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig."** Der Staat setzt den Ordnungsrahmen, greift aber korrigierend ein, um soziale Härten abzufedern.

Lektüre zur Vertiefung:

Boeckh et al. (2017): Kapitel 2.6 "Neubeginn im Zeichen der Restauration" (S. 57-71).

Exkurs: Das Rentensystem vor 1957 – Garant für Altersarmut

Um die Bedeutung der Rentenreform von 1957 zu verstehen, müssen wir das vorherige System analysieren. Es basierte auf einem völlig anderen theoretischen Prinzip und führte in der Nachkriegszeit zu massiver Altersarmut.

Theoretische Grundlage: Kapitaldeckungsprinzip

Die Idee war, dass jede Generation für sich selbst spart. Die Beiträge der Versicherten wurden am Kapitalmarkt angelegt. Die spätere Rente sollte dann aus diesem angesparten Kapital plus Zinsen finanziert werden. Theoretisch ein individuelles und "gerechtes" System.

Berechnung: Die "statische Rente"

Die einmal festgestellte Rentenhöhe blieb **lebenslang gleich**. Sie war an den Nennwert der eingezahlten Beiträge gekoppelt und wurde nicht an die Lohn- oder Preisentwicklung angepasst. Man sprach von einer **nominalen Wertsicherung**.

**Das Problem in der Realität:** Die beiden Weltkriege und die Hyperinflation (1923) hatten das angesparte Kapital der Rentenversicherung fast vollständig vernichtet. Die Renten der Nachkriegszeit waren daher extrem niedrig. Durch die steigenden Löhne im Wirtschaftswunder wurden die Rentner*innen vom wachsenden Wohlstand komplett abgekoppelt. Die **statische Rente wurde zur Armutsfalle**.

Meilenstein I: Die große Rentenreform von 1957

Als Reaktion auf die massive Altersarmut war die Rentenreform unter Konrad Adenauer die bedeutendste sozialpolitische Weichenstellung der Nachkriegszeit.

Die Reform war ein **Paradigmenwechsel**: Weg vom Kapitaldeckungsprinzip, hin zum **Umlageverfahren** und zur **dynamischen Rente**.

Das Umlageverfahren

Die Renten werden nun direkt aus den laufenden Beiträgen der Erwerbstätigen finanziert. Dies ist die Grundlage des **"Generationenvertrags"**: Die arbeitende Generation zahlt für die Rentnergeneration.

Die dynamische Rente

Die Höhe der Renten wird fortan jährlich an die Entwicklung der Bruttolöhne angepasst. Damit wurde sichergestellt, dass die Rentner*innen am wachsenden Wohlstand teilhaben und ihr Lebensstandard gesichert wird.

Meilenstein II: Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961

Das BSHG löste die zersplitterte Armenfürsorge ab und wurde für Jahrzehnte zum **"Grundgesetz der Sozialen Arbeit"**. Es etablierte den **Rechtsanspruch** auf Hilfe und definierte neue, differenzierte Leistungsarten, die für die Bürger*innen spürbare Veränderungen brachten.

"Hilfe zum Lebensunterhalt"

Dies war die materielle Grundsicherung für all jene, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten konnten. Spürbar für die Bürger*innen war hier die Vereinheitlichung und die rechtliche Absicherung eines soziokulturellen Existenzminimums, das über das reine Überleben hinausging.

"Hilfe in besonderen Lebenslagen"

Dies war die entscheidende Innovation, die den Bedarf der Sozialen Arbeit massiv steigerte. Erstmals gab es spezifische, gesetzlich verankerte Hilfen, z.B.:

  • **Eingliederungshilfe für Behinderte:** Ein Paradigmenwechsel von der reinen "Verwahrung" zur Teilhabe. Spürbar durch den Anspruch auf Schulbildung, Werkstattplätze und Wohnheime.
  • **Hilfe zur Pflege:** Absicherung bei Pflegebedürftigkeit, lange vor der Pflegeversicherung.
  • **Hilfe zur Weiterführung des Haushalts:** Konkrete Unterstützung für Familien in Krisensituationen.
  • **Altenhilfe:** Leistungen, die über die reine Geldsicherung hinausgingen.

Gruppenarbeit (90 Min.): Kontroversen-Debatte 💬

Debattenthema: Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961

War das BSHG ein Meilenstein der Humanisierung, der die Soziale Arbeit professionalisiert hat, oder war es vor allem eine Fortsetzung der alten, kontrollierenden Fürsorge in neuem Gewand?

Ihr Auftrag: Erarbeiten Sie eine streitbare Position!

Gruppe A: Pro-Position

Argumentieren Sie, warum das BSHG ein **historischer Fortschritt** war. Konzentrieren Sie sich auf den Rechtsanspruch, das Menschenwürde-Prinzip und die neuen differenzierten Hilfen in besonderen Lebenslagen.

Gruppe B: Contra-Position

Argumentieren Sie, warum das BSHG im Kern die **alte Fürsorgelogik** fortgeschrieben hat. Konzentrieren Sie sich auf die Bedürftigkeitsprüfung, den Arbeitsvorrang und die Kontrollmechanismen.

Die sozialliberale Ära: Expansion und "innere Reformen" (ab 1969)

Mit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ("Mehr Demokratie wagen") begann die "goldene Ära" des bundesdeutschen Sozialstaats. Der Fokus verlagerte sich von der reinen Absicherung hin zu einer Politik der aktiven Gestaltung von Lebenschancen.

Zentrale Reformprojekte:

✅ Ausbau der Bildungsförderung (BAföG 1971) ✅ Flexibilisierung des Renteneintritts ✅ Arbeitsförderungsgesetz (AFG 1969) ✅ Humanisierung der Arbeitswelt ✅ Massiver Ausbau sozialer Dienste ✅ Öffnung der GKV für weitere Gruppen

Diese Phase des Ausbaus endete mit der Ölkrise 1973 und der darauf folgenden Massenarbeitslosigkeit, die den Sozialstaat vor neue, bis heute andauernde Finanzierungsherausforderungen stellte.

Ausblick auf die nächste Sitzung

Am **Dienstag, 14.10.2025**, beginnen wir mit der systematischen Analyse der heutigen Politikfelder:

"Entwicklungslinien I: Arbeit & Beschäftigung"

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!