Tag 4 | 14.10.2025
Entwicklungslinien I: Arbeit & Beschäftigung
Die Architektur der deutschen Arbeitsmarktpolitik
Felix Niemann, B.A.
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Themen des Tages
- Arbeit als Schlüssel zur Teilhabe
- Das duale System: SGB III (Versicherung) vs. SGB II (Fürsorge)
- Im Detail: Arbeitsförderung nach SGB III
- Im Detail: Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II
- **Gruppenarbeit: Akteure im sozialpolitischen Feld**
- Problemfeld: Niedriglohnsektor und "Aufstocker"
- Der Arbeitsschutz: Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
Lernziele des Tages
- ... die grundlegende Zweiteilung der deutschen Arbeitsmarktpolitik erklären.
- ... die unterschiedlichen Logiken, Ziele und Leistungen von SGB III und SGB II voneinander abgrenzen.
- ... das Prinzip "Fördern und Fordern" im SGB II kritisch einordnen und auf ein Szenario anwenden.
- ... die sozialpolitische Relevanz des Arbeitsschutzes und der Unfallversicherung verstehen.
Arbeit als Schlüssel zur Teilhabe
In modernen Gesellschaften ist Erwerbsarbeit weit mehr als nur eine Einkommensquelle. Sie ist zentral für die soziale Integration, die persönliche Identität und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust von Arbeit stellt daher ein fundamentales soziales Risiko dar.
Die deutsche Sozialpolitik ist historisch stark **lohnarbeitszentriert**. Das bedeutet: Der Zugang zu den zentralen Sozialversicherungssystemen und die Höhe der Ansprüche sind direkt an eine kontinuierliche Erwerbsbiografie geknüpft. Wer aus diesem System herausfällt, ist auf nachrangige Fürsorgesysteme angewiesen.
Die Arbeitsmarktpolitik hat daher eine doppelte Aufgabe: Einerseits soll sie Menschen bei Arbeitslosigkeit **materiell absichern** (passive Funktion), andererseits soll sie sie möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt **integrieren** (aktive Funktion).
Das duale System der Arbeitsmarktpolitik
Die deutsche Arbeitsmarktpolitik ist strikt zweigeteilt und folgt der historischen Trennung von Versicherung und Fürsorge.
SGB III: Arbeitsförderung
- **Logik:** Versicherung
- **Prinzip:** Äquivalenz (erworbener Anspruch)
- **Leistung:** Arbeitslosengeld (ALG I)
- **Finanzierung:** Beiträge
- **Träger:** Bundesagentur für Arbeit
SGB II: Grundsicherung
- **Logik:** Fürsorge
- **Prinzip:** Subsidiarität (Bedürftigkeit)
- **Leistung:** Bürgergeld
- **Finanzierung:** Steuern
- **Träger:** Jobcenter
Im Detail: Arbeitsförderung nach SGB III
Das SGB III zielt darauf ab, den Eintritt von Arbeitslosigkeit zu vermeiden, die Dauer zu verkürzen und die Folgen abzumildern.
Passive Leistungen (Einkommensersatz)
- Arbeitslosengeld (ALG I): Ca. 60%/67% des letzten Nettoeinkommens. Voraussetzung & Dauer sind an Beitragszeiten gekoppelt.
- Kurzarbeitergeld: Soll bei vorübergehendem Arbeitsausfall Kündigungen vermeiden.
Aktive Leistungen (Integration)
- Berufsberatung und Arbeitsvermittlung
- Förderung der beruflichen Weiterbildung
- Gründungszuschuss, Eingliederungszuschüsse
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 4.2.1 "Arbeitsförderung".
Fehmel (2022): Kapitel 6.2.6 "Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung".
Im Detail: Grundsicherung nach SGB II ("Bürgergeld")
Das SGB II richtet sich an **erwerbsfähige** Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können.
Die Leitidee des SGB II ist das Prinzip des **"Förderns und Forderns"**: Einerseits sollen Leistungen das Existenzminimum sichern und die Integration fördern, andererseits wird von den Leistungsberechtigten eine aktive Mitwirkung bei der Jobsuche verlangt.
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
- Regelbedarf, Kosten der Unterkunft & Heizung (KdU), Mehrbedarfe, Bildungs- und Teilhabepaket (BuT).
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit
Die Jobcenter verfügen über ein breites Spektrum an Förderinstrumenten (z.B. Coaching, Qualifizierungen, Lohnkostenzuschüsse).
Gruppenarbeit (120 Min.): Akteure im sozialpolitischen Feld 👥
Szenario: Eine neue Gesetzesinitiative
"Die **'Gemeinwohl-Aktivierung'** wird eingeführt: Alle erwerbsfähigen SGB-II-Bezieher, die länger als 24 Monate arbeitslos sind, werden zu 15 Std./Woche gemeinnütziger Tätigkeit verpflichtet. Die Organisation erfolgt durch die Jobcenter in Kooperation mit den freien Trägern. Weigerungen führen zu Sanktionen."
Ihr Auftrag: Erarbeiten Sie ein Positionspapier!
Wählen Sie eine der folgenden Rollen und analysieren Sie das Szenario anhand der Leitfragen. Bereiten Sie sich vor, Ihre drei wichtigsten Argumente dem Plenum vorzustellen.
Rolle A: Geschäftsführung freier Träger
Sie sollen die zugewiesenen Personen einsetzen, sind aber auf Freiwilligkeit und ein gutes Verhältnis zu Klient*innen angewiesen.
Rolle B: Teamleitung Jobcenter
Sie müssen das Gesetz umsetzen, Personen zuweisen, die Teilnahme kontrollieren und ggf. sanktionieren. Ihr Ziel: Integration in den 1. Arbeitsmarkt.
Rolle C: Sozialberatung
Sie vertreten die Interessen der Betroffenen (Anwaltsfunktion) und müssen sie über ihre Rechte und Pflichten aufklären.
Leitfragen für Ihre Analyse:
- **Prinzipien (Tag 1):** Welche der drei Säulen (Solidarität, Subsidiarität, Eigenverantwortung) werden berührt/verletzt/gestärkt?
- **Historie (Tag 2/3):** In welcher historischen Tradition (z.B. Armenfürsorge, Zwangsarbeit) steht diese Maßnahme?
- **Arbeitsmarktpolitik (Tag 4):** Wie fügt sich die Maßnahme in die Logik des "Förderns und Forderns" ein? Welche praktischen Folgen hat sie?
- **Soziale Arbeit (Profession):** Welcher Pol des "doppelten Mandats" (Hilfe vs. Kontrolle) wird hier gestärkt? Welche ethischen Dilemmata entstehen?
Problemfeld: Niedriglohnsektor und "Aufstocker"
"Aufstocker": Arbeit und trotzdem arm?
Als **"Aufstocker"** werden Personen bezeichnet, die zwar erwerbstätig sind, deren Einkommen aber so gering ist, dass sie zusätzlich Bürgergeld nach SGB II beantragen müssen, um ihr Existenzminimum zu sichern.
Dies führt zu einer problematischen Situation: Der Staat subventioniert indirekt niedrige Löhne. Ein zentrales Instrument zur Bekämpfung dieses Problems ist der **gesetzliche Mindestlohn**.
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Sozialarbeiter\*innen in Beratungsstellen sind permanent mit den Folgen des Niedriglohnsektors konfrontiert. Die Beratung von "Aufstockern" und die komplizierte Berechnung der Ansprüche ist ein zentrales Handlungsfeld.
Arbeitsschutz & Unfallversicherung (SGB VII)
Prävention
Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.
Rehabilitation
Wiedereingliederung in Arbeit und Gesellschaft ("Reha vor Rente").
Kompensation
Finanzielle Leistungen bei dauerhaften Schäden (z.B. Unfallrente).
**Besonderheit:** Die Unfallversicherung wird allein von den **Arbeitgebern** finanziert. Die Träger sind die **Berufsgenossenschaften**.
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Dienstag, 04.11.2025**, widmen wir uns dem nächsten großen Feld:
"Entwicklungslinien II: Gesundheit & Pflege"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!