Tag 5 | 04.11.2025
Entwicklungslinien II: Gesundheit & Pflege
Zwischen Solidarprinzip und Kostendruck
Felix Niemann, B.A.
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Themen des Tages
- Gesundheit als sozialpolitisches Handlungsfeld
- Das deutsche Gesundheitssystem: Akteur*innen und Prinzipien
- Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im Detail
- Das neue soziale Risiko: Pflegebedürftigkeit
- Die Soziale Pflegeversicherung (SPV) im Detail
- Exkurs: Kritische Betrachtung der GKV
- **Exkurs: Budgetierung und Regress in der Arztpraxis**
- Exkurs: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)
- Gruppenarbeit: Dilemma-Debatte zur Ressourcenverteilung
Lernziele des Tages
- ... die Grundstruktur des deutschen Gesundheitssystems und seine zentralen Akteur*innen beschreiben.
- ... die Funktionsweise und die Finanzierungslogik der GKV (SGB V) erklären.
- ... die Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) als Antwort auf den demografischen Wandel begründen.
- ... die Steuerungsmechanismen der Budgetierung und deren Konsequenzen kritisch einordnen.
- ... sozialpolitische Verteilungsprobleme im Gesundheitswesen analysieren und diskutieren.
Warum ist Gesundheit ein sozialpolitisches Thema?
Gesundheit ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit. Der Gesundheitszustand eines Menschen hängt maßgeblich von seinen sozialen Lebensbedingungen ab ("Soziale Determinanten von Gesundheit"). Faktoren wie Einkommen, Bildung, Arbeitsbedingungen und Wohnumfeld haben einen größeren Einfluss auf die Lebenserwartung als die medizinische Versorgung allein.
Das Risiko, krank zu werden, ist ungleich verteilt, trifft aber potenziell jeden. Die Kosten für moderne medizinische Behandlungen können die finanzielle Leistungsfähigkeit des*der Einzelnen bei weitem übersteigen. Ohne ein kollektives Sicherungssystem würde der Zugang zu medizinischer Versorgung vom Geldbeutel abhängen.
Gesundheitspolitik ist daher der Versuch, über das **Solidarprinzip** einen chancengleichen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle Bürger*innen zu gewährleisten, unabhängig von ihrem sozialen Status und Einkommen.
Die Architektur des deutschen Gesundheitssystems
Unser System ist komplex und geprägt durch eine duale Struktur und das Prinzip der Selbstverwaltung.
Duale Versicherungsstruktur
- **Gesetzliche Krankenversicherung (GKV):** Pflicht für die meisten Arbeitnehmer*innen. Ca. 90% der Bevölkerung.
- **Private Krankenversicherung (PKV):** Zugänglich für Beamt*innen, Selbstständige und Besserverdienende.
Prinzip der Selbstverwaltung
Der Staat setzt nur den rechtlichen Rahmen. Die konkrete Ausgestaltung des Systems (z.B. welche Leistungen bezahlt werden) wird von den gemeinsamen Gremien der **Selbstverwaltung** (Ärzt*innen, Krankenhäuser, Krankenkassen) ausgehandelt. Das wichtigste Gremium ist der **Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)**.
Im Detail: Die Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)
Die GKV ist das Herzstück des deutschen Gesundheitssystems und die reinste Ausprägung des Solidarprinzips.
Finanzierung: Der Gesundheitsfonds
Alle Beiträge von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern sowie ein Steuerzuschuss des Bundes fließen in einen zentralen Topf, den Gesundheitsfonds. Von dort wird das Geld nach einem komplexen Schlüssel an die einzelnen Krankenkassen verteilt.
Leistungsprinzip: Sachleistungen
Versicherte haben Anspruch auf medizinische Leistungen, nicht auf Geld. Sie gehen mit ihrer Versichertenkarte zum*zur Ärzt*in, der*die direkt mit der Krankenkasse abrechnet (**Sachleistungsprinzip**).
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 4.4.1 "Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung".
Fehmel (2022): Kapitel 6.2.3 "Gesetzliche Krankenversicherung".
Das "neue" soziale Risiko: Pflegebedürftigkeit
Lange Zeit galt Pflegebedürftigkeit als privates Risiko, das von den Familien (meist von Frauen) getragen oder aus eigenem Vermögen bezahlt werden musste. Durch den **demografischen Wandel** (mehr alte Menschen, weniger junge) und den Wandel der Familienstrukturen wurde dieses System unhaltbar.
Die Einführung der **Sozialen Pflegeversicherung (SPV)** im Jahr **1995** war die letzte große sozialpolitische Reform zur Schaffung eines neuen Sozialversicherungszweigs. Sie erkennt Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko an, das kollektiv abgesichert werden muss.
Im Detail: Die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)
Die SPV ist als **"Teilkasko"-Versicherung** konzipiert: Sie leistet nur pauschale Zuschüsse. Die Einstufung in einen von fünf Pflegegraden durch den Medizinischen Dienst (MD) ist entscheidend für die Leistungshöhe.
Pflegegrade & Pflegegeld (Stand Oktober 2025)
| Pflegegrad | Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (MD-Punkte) | Pflegegeld (bei häusl. Pflege) |
|---|---|---|
| 1 | Gering (12,5 bis < 27 Punkte) | 0 € |
| 2 | Erheblich (27 bis < 47,5 Punkte) | 347 € / Monat |
| 3 | Schwer (47,5 bis < 70 Punkte) | 599 € / Monat |
| 4 | Schwerst (70 bis < 90 Punkte) | 800 € / Monat |
| 5 | Schwerst, mit besonderen Anforderungen (90 bis 100 Punkte) | 990 € / Monat |
Hinweis: Die Beträge (Stand 01.01.2025) gelten für die häusliche Pflege durch Angehörige. Für professionelle Pflegedienste (Pflegesachleistungen) gelten höhere Beträge.
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Die Beratung von pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen ist ein riesiges Feld der Sozialen Arbeit (z.B. in Pflegestützpunkten, Sozialdiensten von Krankenhäusern). Die komplexen Antragsverfahren, die Organisation der Versorgung und die Klärung der Restfinanzierung (oft durch "Hilfe zur Pflege" nach SGB XII) sind zentrale Aufgaben.
Exkurs: Kritische Betrachtung der GKV
Trend: Verwaltungskosten
Anteil der Verwaltungskosten an den Gesamtausgaben der GKV
~5.8%
1975
~6.1%
1995
~5.5%
2015
~5.2%
2023
Trend: Trotz steigender Gesamtausgaben ist der prozentuale Anteil der Verwaltungskosten über die letzten Jahrzehnte relativ stabil bis leicht sinkend.
GKV vs. PKV: Zwei Welten
GKV: Sachleistungsprinzip
Der*die Ärzt*in rechnet direkt mit der Kasse ab. Der*die Patient*in merkt nichts von den Kosten. Leistungen müssen "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" sein (§ 12 SGB V).
PKV: Kostenerstattungsprinzip
Der*die Patient*in ist Vertragspartner*in des*der Ärzt*in, erhält eine private Rechnung und reicht diese zur Erstattung ein. Abgerechnet wird nach der höher dotierten Gebührenordnung für Ärzt*innen (GOÄ).
Abrechnungsbeispiel: Verdacht auf Gallensteine
| Leistung | Abrechnung GKV (EBM) | Abrechnung PKV (GOÄ, 2.3x) |
|---|---|---|
| Anamnese, Beratung, Untersuchung | In Versichertenpauschale 03000 enthalten | GOÄ 3 (~20,11€) + GOÄ 7 (~21,46€) |
| Sonographie Abdomen (Bauchultraschall) | EBM 33042 (~17,72€) | GOÄ 410 (~26,81€) + GOÄ 420 (~10,72€) |
| GESAMT (ca.) | ~ 35 € | ~ 80 € |
Exkurs: Das Dilemma der Budgetierung (Beispiel Hausarzt)
Um die Ausgaben der GKV zu steuern, erhalten die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) von den Krankenkassen nur ein Gesamtbudget (die **morbiditätsorientierte Gesamtvergütung**). Die KVen verteilen dieses Budget auf die einzelnen Arztpraxen. Dies führt zu einer Deckelung.
Das Problem des "Regel-Leistungs-Volumens" (RLV)
Ein Hausarzt erhält pro GKV-Patient*in und Quartal ein festes Budget (RLV), z.B. 45 €. Mit diesem Betrag müssen **alle** in diesem Quartal erbrachten Regelleistungen (Beratung, Untersuchung, EKG, Lungenfunktion etc.) bezahlt werden.
Grafik: Eine Praxis im 3. Quartal. Das Budget ist aufgebraucht.
Was passiert bei Überschreitung?
Behandelt der Arzt weiter, obwohl sein RLV für das Quartal "voll" ist, erhält er diese zusätzlichen Leistungen oft nur noch zu stark gekürzten, "abgestaffelten" Sätzen (z.B. nur noch 10% der normalen Vergütung). Dies kann dazu führen, dass Praxen gegen Quartalsende GKV-Patient*innen schwerer Termine geben.
Was ist ein "Regress"?
Noch gravierender ist der Regress, z.B. bei Arznei- oder Heilmitteln. Verordnet ein Arzt "unwirtschaftlich" (z.B. zu teure Medikamente oder zu viel Physiotherapie im Vergleich zu Kolleg*innen), kann er Jahre später dafür in **Regress** genommen werden. Das bedeutet: Er muss die Differenz aus eigener Tasche an die Kasse zurückzahlen. Dies führt zu großer Verunsicherung und einer "defensiven" Verordnungspraxis.
Exkurs: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)
Der G-BA wird oft als der **"kleine Gesetzgeber"** im Gesundheitswesen bezeichnet. Er ist das mächtigste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung.
Wer ist der G-BA?
Er besteht aus Vertreter*innen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem GKV-Spitzenverband. Dazu kommen 3 unparteiische Mitglieder sowie Patientenvertreter*innen mit Antrags- und Mitberatungsrecht, aber **ohne Stimmrecht**.
Was macht der G-BA? (Beispiele)
- **Nutzenbewertung neuer Medikamente:** Entscheidet, ob ein neues, teures Medikament einen Zusatznutzen hat.
- **Zulassung neuer Behandlungsmethoden:** Prüft, ob z.B. eine App auf Rezept Kassenleistung wird.
- **Qualitätssicherung:** Legt fest, welche Qualitätsstandards Krankenhäuser einhalten müssen.
Kritik am G-BA
Kritiker*innen bemängeln oft die **mangelnde demokratische Legitimation**, die **langsamen Prozesse** sowie die **fehlende Transparenz**.
Gruppenarbeit (90 Min.): Dilemma-Debatte ⚖️
Szenario: Das Budget des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
"Ein Zusatzbudget von **500 Millionen Euro** steht zur Verfügung, um neue Behandlungen in den GKV-Katalog aufzunehmen. Das Budget reicht nur für **eine** von drei Optionen. Ihre Arbeitsgruppe agiert als Unterausschuss des G-BA und muss eine Empfehlung aussprechen."
Ihr Auftrag: Treffen Sie eine Entscheidung!
Diskutieren Sie die drei Optionen und entscheiden Sie sich für eine. Begründen Sie Ihre Wahl mithilfe sozialpolitischer Prinzipien.
Option A: Gentherapie
Heilt eine seltene, tödliche Kinderkrankheit.
Betroffene: 50 Kinder/Jahr.
Kosten: 10 Mio. €/Kind.
Option B: Diabetes-App
Verbessert die Blutzucker-Einstellung bei Diabetes Typ 2 erheblich.
Betroffene: 5 Mio. Menschen.
Kosten: 100 €/Person.
Option C: Psychotherapie
Finanzierung von 500 zusätzlichen Kassensitzen, um Wartezeiten für Depressions-Patient*innen zu halbieren.
Betroffene: 10.000 zus. Plätze/Jahr.
Leitfragen für Ihre Debatte:
- **Solidarität:** Welche Entscheidung entspricht am ehesten dem Solidarprinzip?
- **Gerechtigkeit:** Ist es gerecht, 500 Mio. € für 50 Kinder auszugeben, während Millionen andere leer ausgehen?
- **Effizienz & Nachhaltigkeit:** Welche Entscheidung hat den größten gesellschaftlichen Nutzen?
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Montag, 17.11.2025**, befassen wir uns mit einem Thema, das uns alle betrifft:
"Entwicklungslinien III: Alter & Rente"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!