Tag 6 | 17.11.2025
Entwicklungslinien III: Alter & Rente
Der Generationenvertrag im Stresstest
Felix Niemann, B.A.
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Themen des Tages
- Das "soziale Risiko Alter": Warum Alterssicherung?
- Die Architektur: Das Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung
- Fokus Säule 1: Die Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI)
- Die Logik der GRV: Äquivalenz- vs. Solidarprinzip
- Exkurs: Die Rentenformel & die Entgeltpunkte
- Die zentrale Herausforderung: Demografischer Wandel (Boeckh 5.1)
- **Gruppenarbeit: Policy-Werkstatt "Rettet die Rente"**
- Säule 2 & 3: Betriebliche und private Vorsorge
- Praxisrelevanz: Grundsicherung im Alter und Altersarmut
Lernziele des Tages
- ... das Drei-Säulen-Modell der deutschen Alterssicherung erklären.
- ... die Funktionsweise des Umlageverfahrens (Generationenvertrag) verstehen.
- ... die Rentenformel in ihren Grundzügen (insb. Entgeltpunkte) nachvollziehen.
- ... die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Finanzstabilität der GRV analysieren.
- ... die Rolle der Grundsicherung im Alter als unterstes soziales Netz einordnen.
Das "soziale Risiko Alter"
In vorindustriellen Gesellschaften war die Absicherung im Alter primär eine Aufgabe der (Groß-)Familie. Mit der Industrialisierung und der Auflösung der Mehrgenerationen-Haushalte wurde dies hinfällig. Das "Risiko Alter" bezeichnet das Risiko, nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben kein ausreichendes Einkommen mehr zu erzielen, um den Lebensstandard zu halten.
Die Alterssicherung ist die **konstitutive** (gesellschaftsgestaltende) Antwort der Sozialpolitik auf dieses Risiko. Sie sichert nicht nur Individuen ab, sondern stabilisiert die gesamte Gesellschaft, indem sie den "Ruhestand" als planbare Lebensphase erst ermöglicht.
Wie wir in Tag 3 gesehen haben, war die Einführung der dynamischen Rente 1957 der entscheidende Schritt weg von einer reinen Armutsvermeidung hin zu einer **Lebensstandardsicherung**.
Die Architektur: Das Drei-Säulen-Modell
Die deutsche Alterssicherung beruht seit den 1990er/2000er Jahren (Riester-Reform) offiziell auf drei Säulen:
1. Säule: Gesetzliche Rentenversicherung (GRV)
**Pflichtversicherung** für die meisten Erwerbstätigen. Sichert als **Umlageverfahren** die Grundversorgung.
2. Säule: Betriebliche Altersvorsorge (bAV)
Zusatzvorsorge über den*die Arbeitgeber*in (z.B. Direktversicherung, Pensionskassen).
3. Säule: Private Vorsorge
Kapitalgedeckte, freiwillige Vorsorge (z.B. Riester-Rente, Rürup-Rente, private Lebensversicherungen).
Die 1. Säule ist und bleibt die mit Abstand wichtigste. Die Säulen 2 und 3 wurden eingeführt, um die **Niveauabsenkung** in der 1. Säule zu kompensieren.
Fokus Säule 1: Die Logik der Gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI)
Die GRV ist ein komplexes System, das zwei scheinbar widersprüchliche Prinzipien vereint:
Das Äquivalenzprinzip (Leistung)
Die Rentenhöhe richtet sich stark nach der Höhe und Dauer der eingezahlten Beiträge. Wer mehr und länger einzahlt, bekommt mehr Rente. Dies ist der "Versicherungs"-Aspekt, der die Eigenverantwortung belohnt.
Das Solidarprinzip (Umverteilung)
Dieses Prinzip durchbricht die reine Äquivalenz an vielen Stellen. Solidarität findet statt durch:
- Anrechnung von **Kindererziehungszeiten** ("Mütterrente").
- Leistungen zur Rehabilitation ("Reha vor Rente").
- Zahlung von **Erwerbsminderungsrenten**.
- Keine Unterscheidung nach Geschlecht oder Risiko.
Exkurs: Wie wird die Rente berechnet? (Die Rentenformel)
Monatsrente = Entgeltpunkte (EP) x Zugangsfaktor (ZF) x Rentenartfaktor (RAF) x Aktueller Rentenwert (AR)
Der wichtigste Teil: Entgeltpunkte (EP)
Dies ist der Kern des Äquivalenzprinzips. Ein*e Arbeitnehmer*in, der*die in einem Jahr **genau das Durchschnittseinkommen** aller Versicherten verdient, erhält dafür **1,0 Entgeltpunkte**.
Wer das Doppelte verdient, erhält 2,0 EP.
Wer die Hälfte verdient, erhält 0,5 EP.
Am Ende des Arbeitslebens werden alle Punkte addiert.
Die anderen Faktoren
- **Zugangsfaktor (ZF):** Ist 1,0 bei regulärem Renteneintritt. Wird kleiner bei Frühverrentung (Abschläge).
- **Rentenartfaktor (RAF):** Ist 1,0 für die normale Altersrente, aber z.B. nur 0,5 für Halbwaisenrenten.
- **Aktueller Rentenwert (AR):** Der Wert eines Entgeltpunktes in Euro (z.B. 39,32 € ab 07/2024).
Die zentrale Herausforderung: Demografischer Wandel (Boeckh 5.1)
Das Umlageverfahren (Generationenvertrag) funktioniert nur, solange das Verhältnis von Beitragszahler*innen zu Rentenempfänger*innen stabil ist. Dieses Verhältnis gerät durch zwei Entwicklungen massiv unter Druck:
Die "Verrentung der Babyboomer"
Die geburtenstarken Jahrgänge (ca. 1955-1970) gehen nun in Rente. Sie bilden eine große Gruppe von Empfänger*innen.
Niedrige Geburtenraten
Gleichzeitig rücken geburtenschwache Jahrgänge in den Arbeitsmarkt nach. Es gibt immer weniger Beitragszahler*innen pro Rentner*in.
**Der Kernkonflikt:** Um das System stabil zu halten, gibt es nur drei "Stellschrauben":
1. Beiträge erhöhen (belastet die Jungen)
2. Rentenniveau senken (belastet die Alten)
3. Lebensarbeitszeit verlängern (z.B. Rente mit 69/70).
Gruppenarbeit (90 Min.): Policy-Werkstatt "Rettet die Rente" 🔧
Szenario: Sie sind die Rentenkommission der Bundesregierung
"Ihre Aufgabe ist es, die GRV bis 2040 zu stabilisieren. Die reine Lehre (nur eine Maßnahme) ist politisch nicht durchsetzbar. Sie müssen ein **Misch-Paket** aus den drei zentralen Stellschrauben schnüren. Jede Maßnahme hat soziale Konsequenzen."
Ihr Auftrag: Entwerfen Sie ein Reformpaket!
Diskutieren Sie in der Gruppe die Vor- und Nachteile jeder Option und einigen Sie sich auf einen Kompromiss. Begründen Sie, warum Ihr Paket sozial ausgewogen ist.
Stellschraube 1: Beiträge erhöhen
**Pro:** Stabilisiert Einnahmen, schützt aktuelles Rentenniveau.
**Contra:** Belastet die junge, arbeitende Generation und verteuert Arbeit (Lohnnebenkosten).
Stellschraube 2: Rentenniveau senken
**Pro:** Stabilisiert Ausgaben, entlastet die Beitragszahler*innen.
**Contra:** Führt direkt zu mehr Altersarmut und bricht das Versprechen der Lebensstandardsicherung.
Stellschraube 3: Regelaltersgrenze erhöhen
**Pro:** Erhöht die Zahl der Beitragszahler*innen und senkt die Zahl der Empfänger*innen.
**Contra:** Bestraft Menschen in körperlich harten Berufen (z.B. Pflege, Handwerk), die nicht so lange arbeiten können.
Leitfragen für Ihre Debatte:
- Welcher Mix ist aus Ihrer Sicht am "gerechtesten"?
- Welche Folgen hat Ihr Paket für Geringverdiener*innen?
- Welche Rolle spielt die Soziale Arbeit, wenn Ihr Paket (z.B. durch sinkendes Niveau) Altersarmut produziert?
Die Säulen 2 & 3: Betriebliche und Private Vorsorge
Da das Niveau der gesetzlichen Rente politisch gewollt sinkt (um die Beiträge stabil zu halten), sollen die Bürger*innen die entstehende "Rentenlücke" über die Säulen 2 und 3 schließen. Der Staat fördert dies (z.B. durch die "Riester-Rente").
Betriebliche Altersvorsorge (bAV)
Vorsorge über den*die Arbeitgeber*in. Arbeitnehmer*innen haben einen Rechtsanspruch auf "Entgeltumwandlung" (Teile des Bruttolohns fließen direkt in einen Vorsorgevertrag). Problem: Geringverdiener*innen können oft nichts vom Lohn "umwandeln".
Private Vorsorge (z.B. Riester)
Staatlich geförderte (durch Zulagen) private Sparverträge. Ziel war die Kompensation der Niveauabsenkung in der GRV. Gilt heute als hochkomplex, teuer (hohe Verwaltungskosten der Anbieter) und wenig rentabel.
Das letzte Netz: Grundsicherung im Alter (SGB XII)
Was passiert, wenn alle drei Säulen nicht ausreichen, um das Existenzminimum zu sichern? Dies ist die Realität für eine wachsende Zahl von Menschen, insbesondere Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien und Langzeit-Geringverdiener*innen.
Wenn die Rente nicht zum Leben reicht, greift das Fürsorgeprinzip (Tag 1): Die **"Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung"** nach dem SGB XII. Sie funktioniert ähnlich wie das Bürgergeld (SGB II): Sie ist steuerfinanziert und bedarfsgeprüft (Subsidiarität).
Praxisrelevanz für die Soziale Arbeit
Die Beratung von älteren Menschen, die (oft aus Scham) ihre Ansprüche auf Grundsicherung nicht wahrnehmen, ist ein zentrales Feld der kommunalen Sozialen Arbeit (z.B. in Seniorenbüros). Sozialarbeiter*innen müssen hier die Brücke zwischen dem Rentenrecht (SGB VI) und dem Fürsorgerecht (SGB XII) schlagen und bei der Antragstellung unterstützen.
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Dienstag, 18.11.2025**, vertiefen wir das Thema Armut und soziale Hilfen:
"Entwicklungslinien IV: Armut, Migration und soziale Hilfen"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!