Tag 7 | 18.11.2025
Entwicklungslinien IV: Armut, Migration & Soziale Hilfen
Die untersten Sicherungsnetze des Sozialstaats
Felix Niemann, B.A.
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Themen des Tages
- **Einstiegsdiskussion: Provokante These**
- Armutsdefinitionen & das Lebenslagenkonzept
- Fokus: Kinderarmut und ihre Folgen
- Systematik: SGB II vs. SGB XII
- SGB XII: Grundsicherung & "Hilfe zur Pflege"
- **Spezial: Der § 67 SGB XII (Wohnungslosenhilfe)**
- Migration: Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
- **Gruppenarbeit: Fallakten-Analyse**
Lernziele des Tages
- ... Armut als mehrdimensionales Phänomen (Lebenslagen) verstehen.
- ... die strukturelle Vererbung von Armut analysieren.
- ... die komplexe Aufteilung der Grundsicherung sicher unterscheiden.
- ... die Bedeutung des § 67 SGB XII für die Soziale Arbeit kennen.
- ... die sozialpolitische Sonderstellung des AsylbLG kritisch einordnen.
Diskussion zum Einstieg
Provokante These:
"Wer in Deutschland arm ist, ist selbst schuld. Der Sozialstaat bietet genug Netze – wer durchfällt, hat sie aktiv abgelehnt oder sich nicht genug angestrengt."
Diskutieren Sie diese Aussage vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Praxiserfahrungen. Wo liegen die systemischen Lücken?
Was ist Armut? Theoretische Konzepte (Boeckh 4.1)
1. Absolute Armut
Physisches Überleben ist gefährdet (Nahrung, Obdach). Messung z.B. Weltbank (ca. 2,15 USD/Tag). In DE selten, aber bei Obdachlosigkeit relevant.
2. Relative Armut
Mangel an Teilhabe am **gesellschaftlichen Normalstandard**. EU-Definition: Wer weniger als **60% des mittleren Nettoeinkommens** (Median) hat, gilt als armutsgefährdet.
3. Lebenslagenkonzept
Armut ist **mehrdimensional**. Nicht nur Geldmangel, sondern Mangel an Verwirklichungschancen in Gesundheit, Bildung, Wohnen und sozialen Netzwerken. Das zentrale Konzept für die Soziale Arbeit.
Fokus: Kinderarmut und ihre Folgen
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Dies ist kein temporäres Problem, sondern eine Weichenstellung für das ganze Leben.
Die "Vererbung" von Armut
Studien zeigen: Wer arm aufwächst, bleibt oft arm. Armut beeinträchtigt:
- **Gesundheit:** Schlechtere Ernährung, weniger Bewegung, höhere psychische Belastung.
- **Bildung:** Weniger Ressourcen für Nachhilfe, Kultur oder digitale Geräte. Frühere Selektion in niedrigere Schulformen.
- **Soziale Teilhabe:** Scham, Rückzug aus Vereinen, weniger Netzwerke.
Aufgabe der Sozialen Arbeit
Wir können das Einkommen der Eltern oft nicht ändern. Aber wir können die **Folgen abmildern**: Durch kostenlose Bildungsangebote, Mittagstische, Hausaufgabenhilfe und niedrigschwellige Freizeitangebote (Kompensation benachteiligter Lebenslagen).
Das "gespaltene" Fürsorgesystem
Seit den Hartz-Reformen (2005) ist die Fürsorge geteilt. Das Trenkriterium ist die **Erwerbsfähigkeit**.
SGB II: Bürgergeld
Für Erwerbsfähige
Personen, die mind. 3 Std./Tag arbeiten können.
Ziel: Re-Integration in Arbeit ("Fördern & Fordern")
Träger: Jobcenter
SGB XII: Sozialhilfe
Für Nicht-Erwerbsfähige
Rentner*innen & dauerhaft voll Erwerbsgeminderte.
Ziel: Menschenwürdige Versorgung (Alimentierung)
Träger: Sozialamt
Im Detail: SGB XII - Grundsicherung & Hilfe zur Pflege
Grundsicherung im Alter (Kap. 4)
Das "Bürgergeld für Rentner*innen". Wichtig: Hier wurde der **Unterhaltsrückgriff auf Kinder** weitgehend abgeschafft (erst ab 100.000€ Einkommen der Kinder). Ziel: Bekämpfung der verschämten Altersarmut.
Hilfe zur Pflege (Kap. 7)
Da die Pflegeversicherung nur "Teilkasko" ist, reicht das Geld oft nicht für das Heim. Das Sozialamt übernimmt die ungedeckten "Hotelkosten" und Investitionskosten, wenn das eigene Vermögen aufgebraucht ist. Hier findet oft noch ein Unterhaltsrückgriff statt.
Wichtig für die Praxis: Die "Hilfe zur Pflege" ist einer der größten Ausgabenposten der Kommunen und ein häufiger Grund für den ersten Kontakt mit dem Sozialamt im Alter.
Der "Sozialarbeiter-Paragraf": § 67 SGB XII
Neben Geldleistungen bietet das SGB XII auch intensive persönliche Hilfe. Dies ist das Kernfeld der professionellen Sozialen Arbeit.
"Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten"
Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, sind Leistungen zu erbringen...
Zielgruppe:
- Wohnungslose / von Wohnungslosigkeit Bedrohte
- Haftentlassene
- Menschen in gewaltgeprägten Lebensumständen
Leistung:
- Persönliche Beratung & Betreuung
- Beschaffung/Erhalt einer Wohnung
- Aufbau sozialer Beziehungen
- Hilfe bei der Arbeitssuche
Hier agiert Soziale Arbeit nicht als "Antragsbearbeiter", sondern als **Case Management**.
Sondersystem: Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
Das AsylbLG ist ein **eigenständiges Fürsorgesystem** außerhalb des SGB. Es schafft bewusst einen niedrigeren Standard.
Restriktionen & Abschreckung
- **Geringere Regelsätze** (insb. in den ersten 18-36 Monaten).
- **Sachleistungen vor Geldleistungen** (z.B. Bezahlkarte, Essenspakete in Erstaufnahme).
- **Residenzpflicht** und eingeschränkte Bewegungsfreiheit.
Eingeschränkte Gesundheit (§ 4)
Behandlung nur bei **"akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen"**. Chronische Erkrankungen, Zahnersatz oder Psychotherapie werden oft nicht oder nur auf Antrag übernommen. Dies stellt Sozialarbeiter*innen vor massive ethische Dilemmata (Menschenrecht auf Gesundheit vs. Gesetzeslage).
Gruppenarbeit (90 Min.): Policy-Analyse & Ethik-Hearing 🏛️
Szenario: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden
"Das Bundesverfassungsgericht hat (fiktiv) Teile des AsylbLG – insbesondere die abgesenkten Leistungen und die eingeschränkte Gesundheitsversorgung – als mit der Menschenwürde (Art. 1 GG) unvereinbar erklärt. Die Politik wird zu einer Neuregelung gezwungen. Der Bundestag hält ein Experten-Hearing ab."
Ihr Auftrag: Entwickeln Sie eine fundierte Stellungnahme!
Wählen Sie eine der folgenden Rollen. Analysieren Sie die Situation und erarbeiten Sie ein Positionspapier für das Hearing. Was ist Ihre Kernforderung?
Rolle A: Kommunale Spitzenverbände
Sie vertreten die Städte und Landkreise, die die Kosten für Unterkunft und Leistungen tragen. Sie fürchten eine Kostenexplosion und Überlastung der Verwaltung, wenn alle ins SGB II/XII wechseln.
Rolle B: Wohlfahrtsverbände & NGOs
Sie vertreten die Soziale Arbeit und Menschenrechtsorganisationen. Sie sehen die Chance, ein diskriminierendes Sondersystem abzuschaffen und fordern die volle Integration aller in die Regelsysteme (SGB II/XII).
Rolle C: Bundesinnenministerium
Sie sind für Migrationssteuerung zuständig. Sie warnen, dass eine Angleichung der Leistungen "Pull-Faktoren" schafft und die "geordnete Steuerung" untergräbt. Sie fordern ein neues Sondersystem, das gerade so verfassungskonform ist.
Leitfragen für Ihre Analyse (Bezug zur Literatur):
- **Lebenslagen-Ansatz (Boeckh 4.1):** Inwiefern beeinträchtigt das AsylbLG nicht nur das Einkommen, sondern auch andere Dimensionen der Lebenslage (Gesundheit, Wohnen, soziale Teilhabe)?
- **Historischer Vergleich (Tag 2/3):** Wo sehen Sie Parallelen oder Brüche zur Logik der alten Armenfürsorge oder des BSHG?
- **Doppeltes Mandat (Fehmel, Kap. 9):** Wie würde eine Abschaffung des AsylbLG das "doppelte Mandat" der Sozialarbeiter*innen in der Flüchtlingsberatung verändern?
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Dienstag, 25.11.2025**, wenden wir uns einem weiteren zentralen Feld zu:
"Entwicklungslinien V: Familie & Bildung"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!