VL Sozialpolitik | WiSe 25/26

Tag 9 | 02.12.2025

Wohlfahrtsstaaten im Vergleich & Europa

Theorien, Modelle und die europäische Dimension

Felix Niemann, B.A.

Heutige Agenda & Lernziele 📝

Themen des Tages

  1. Warum vergleichen wir Wohlfahrtsstaaten?
  2. Die "Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus" (Esping-Andersen)
  3. Zentrale Analysekriterien: Dekommodifizierung & Stratifizierung
  4. Modell 1: Der liberale Wohlfahrtsstaat
  5. **Praxisbeispiel USA: Der liberale Wohlfahrtsstaat in Aktion**
  6. Modell 2: Der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat
  7. Modell 3: Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
  8. Kritik an der Typologie (Gender-Aspekt)
  9. **Exkurs: Das chinesische Sozialsystem - Ein Hybrid im Wandel**
  10. Die Europäische Union als sozialpolitischer Akteur
  11. Gruppenarbeit: Koalitions-Poker Wohlfahrtsstaat

Lernziele des Tages

  • ... die drei Regimetypen nach Esping-Andersen unterscheiden und Länderbeispielen zuordnen können.
  • ... die Begriffe "Dekommodifizierung" und "Stratifizierung" definieren und anwenden.
  • ... die Besonderheiten des US-amerikanischen und chinesischen Systems im Vergleich einordnen.
  • ... die Rolle der EU in der Sozialpolitik verstehen.

Die "Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus"

Der dänische Soziologe **Gøsta Esping-Andersen** veröffentlichte 1990 sein bahnbrechendes Werk, das bis heute den Standard für den internationalen Vergleich setzt. Er argumentiert, dass Wohlfahrtsstaaten nicht einfach "mehr" oder "weniger" Geld ausgeben, sondern qualitativ unterschiedlichen **Logiken** folgen.

Zentrale Analysekategorie 1: Dekommodifizierung

Wörtlich: "Ent-Wahrung". Beschreibt den Grad, zu dem ein Mensch seine Existenz sichern kann, **ohne** seine Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen zu müssen.
Hohe Dekommodifizierung = Großzügige Sozialleistungen, geringer Zwang zur Arbeit.
Niedrige Dekommodifizierung = Existenzsicherung hängt fast nur vom Lohn ab.

Zentrale Analysekategorie 2: Stratifizierung

Wörtlich: "Schichtung". Beschreibt, wie der Wohlfahrtsstaat soziale Ungleichheiten beeinflusst.
Hohe Stratifizierung = Der Staat erhält Statusunterschiede aufrecht (z.B. unterschiedliche Kassen für Arbeiter/Beamte).
Niedrige Stratifizierung = Der Staat fördert Gleichheit (alle in einer Kasse).

Typ 1: Der liberale Wohlfahrtsstaat

Länderbeispiele: **USA, Großbritannien, Kanada, Australien**

Merkmale

  • Dominanz des **Marktes**.
  • Staatliche Hilfe nur als "letztes Netz" für die Ärmsten.
  • Strenge **Bedürftigkeitsprüfungen** (means-tested).
  • Geringe Leistungen, um den Arbeitsanreiz nicht zu gefährden.
  • Private Vorsorge wird für die Mittelschicht erwartet.

Logik nach Esping-Andersen

  • **Dekommodifizierung:** Minimal. Wer nicht arbeitet, fällt tief.
  • **Stratifizierung:** Hoch (Dualismus). Es entsteht eine Kluft zwischen einer "Wohlfahrts-Unterschicht", die auf den Staat angewiesen ist, und der Mehrheit, die sich privat versichert.

Folgen für die Soziale Arbeit

Soziale Arbeit ist oft "Armenverwaltung" und stark kontrollierend. Stigmatisierung der Klientel ist ein großes Problem ("Welfare Queens").

Praxisbeispiel USA: Der liberale Wohlfahrtsstaat in Aktion

Die USA zeigen exemplarisch, wie ein System funktioniert, das stark auf private Vorsorge setzt und staatliche Hilfe strikt trennt.

Zweigeteiltes Gesundheitssystem

  • **Private Krankenversicherung:** Für die Mehrheit der Erwerbstätigen (oft über Arbeitgeber). Teuer, aber hohe Qualität.
  • **Medicare:** Staatliche Versicherung *nur* für Senior*innen (ab 65) und Menschen mit Behinderung.
  • **Medicaid:** Steuerfinanzierte Fürsorge *nur* für sehr Einkommensschwache. Strenge Bedürftigkeitsprüfung, oft schlechtere ärztliche Versorgung (da Ärzte Medicaid-Patienten ablehnen können).
  • Folge: Millionen Menschen ("Working Poor") fallen durch das Raster und sind unversichert.

Armutsbekämpfung & Rente

  • **Social Security:** Staatliche Rente, die aber (anders als in DE) oft nicht den Lebensstandard sichert. Private Zusatzvorsorge (401k) ist essentiell.
  • **SNAP (Food Stamps):** Lebensmittelmarken als zentrale Hilfe für Arme (statt Bargeld). Starke Stigmatisierung an der Supermarktkasse.
  • **TANF (Sozialhilfe):** "Temporary Assistance for Needy Families". Zeitlich strikt begrenzt (max. 5 Jahre im Leben!). Ziel: Maximaler Arbeitsdruck ("Workfare").
"Das System ist darauf ausgelegt, Abhängigkeit vom Staat zu vermeiden – oft um den Preis hoher Armutsraten."

Typ 2: Der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat

Länderbeispiele: **Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien**

Merkmale

  • Dominanz der **Sozialversicherung**.
  • Koppelung von Rechten an **Erwerbsarbeit** und Status.
  • **Subsidiarität:** Vorrang der Familie und freier Träger vor dem Staat.
  • Traditionelles Familienbild ("Ernährermodell") wird gefördert.

Logik nach Esping-Andersen

  • **Dekommodifizierung:** Mittel. Ansprüche sind gut, setzen aber lange Beitragszahlung voraus.
  • **Stratifizierung:** Hoch. Das System konserviert Statusunterschiede (wer viel verdient hat, bekommt viel Rente). Es zielt auf **Statuserhalt**, nicht auf Gleichheit.

Typ 3: Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat

Länderbeispiele: **Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland**

Merkmale

  • Dominanz des **Staates** (Steuerfinanzierung).
  • **Universalismus:** Alle Bürger*innen haben gleiche Rechte, unabhängig vom Beruf.
  • Umfassende soziale Dienstleistungen (Kitas, Pflege) ermöglichen hohe Erwerbstätigkeit von Frauen.
  • Ziel ist Vollbeschäftigung.

Logik nach Esping-Andersen

  • **Dekommodifizierung:** Hoch. Großzügige Leistungen machen relativ unabhängig vom Marktzwang.
  • **Stratifizierung:** Niedrig. Das System zielt auf **Gleichheit** der Lebensverhältnisse ("Volksheim"-Gedanke).

Folgen für die Soziale Arbeit

Soziale Arbeit ist stark verstaatlicht, gut ausgestattet und präventiv ausgerichtet. Weniger Stigmatisierung, da Leistungen für "alle" da sind.

Kritik an der Typologie: Der "blinde Fleck"

Esping-Andersens Modell wurde (u.a. von feministischen Forscherinnen) stark kritisiert, da es die unbezahlte **Sorgearbeit (Care-Arbeit)** von Frauen ignoriert.

Die Kritik im Detail

Das Konzept der "Dekommodifizierung" setzt voraus, dass man überhaupt erst "kommodifiziert" (also erwerbstätig) ist. Für Frauen im konservativen Modell (Hausfrauen) war aber nicht die Marktabhängigkeit das Problem, sondern die **persönliche Abhängigkeit** vom Ehemann.

Daher forderte die Forschung eine vierte Dimension: **Defamilialisierung**.
Frage: Inwieweit ermöglicht der Sozialstaat ein Leben unabhängig von familiären Unterstützungsleistungen? Hier schneidet das sozialdemokratische Modell (viele Kitas) am besten ab, das konservative am schlechtesten.

Exkurs: Das chinesische Sozialsystem - Ein Hybrid im Wandel

China passt in kein westliches Raster. Es wandelt sich vom sozialistischen "Iron Rice Bowl" (Versorgung über den Staatsbetrieb) hin zu einem fragmentierten Versicherungssystem.

Die Rolle des Hukou-Systems

Das entscheidende Merkmal ist die **Hukou-Registrierung** (Wohnsitzkontrolle). Sie teilt die Bevölkerung strikt in "Stadt" und "Land".

  • **Stadt-Bevölkerung:** Zugang zu relativ guten Sozialversicherungen (Rente, Krankenversicherung).
  • **Land-Bevölkerung & Wanderarbeiter:** Oft ausgeschlossen von städtischen Leistungen. Sie haben eigene, deutlich schlechtere Systeme (z.B. "Neues ländliches kooperatives Krankenversicherungssystem").

Zentrale Säulen heute

  • **Dibao (Sozialhilfe):** Das "Minimum Livelihood Guarantee"-System. Eine bedarfsgeprüfte Grundsicherung, extrem niedrigschwellig, aber mit harter sozialer Kontrolle und Stigmatisierung.
  • **Rente:** Ein Mix aus Basispension (Umlage) und individuellen Konten. Problem: Die rasant alternde Gesellschaft ("graues China") überfordert das System.

**Fazit:** China baut einen massiven Sozialstaat auf, um soziale Unruhen zu vermeiden, leidet aber unter einer extremen **Ungleichheit** zwischen Stadt und Land sowie zwischen Festangestellten und Wanderarbeitern.

Die Europäische Union als sozialpolitischer Akteur

Sozialpolitik ist primär **nationale** Kompetenz. Die EU hat hier nur begrenzte direkte Macht, gewinnt aber an Einfluss.

1. Wirtschafts-Integration

Durch den Binnenmarkt und die Freizügigkeit entstand Druck, Systeme zu koordinieren (z.B. Mitnahme von Rentenansprüchen). Die Rechtsprechung des EuGH hat oft soziale Rechte gestärkt.

2. Offene Methode der Koordinierung (OMK)

Da die EU keine Gesetze für Sozialhilfe erlassen kann, nutzt sie "weiche" Steuerung: Gemeinsame Ziele setzen (z.B. Senkung der Armutsquote), Best-Practice-Austausch und "Naming and Shaming" durch Berichte.

Lektüre zur Vertiefung:

Boeckh et al. (2017): Kapitel 6 "Europäisierung der Sozialpolitik".
Fehmel (2022): Kapitel 3 "Wohlfahrtsstaatsmodelle".

Gruppenarbeit (90 Min.): Koalitions-Poker "Wohlfahrtsstaat 2030" 🤝

Szenario: Regierungsbildung nach der Wahl

"Die Wahl hat keine klare Mehrheit ergeben. Drei Parteien müssen eine Koalition bilden. Jede Partei steht idealtypisch für eines der drei Esping-Andersen-Modelle. Sie müssen einen Koalitionsvertrag für die Bereiche Rente, Bürgergeld und Pflege aushandeln."

Ihr Auftrag: Verhandeln Sie einen Kompromiss!

Finden Sie sich in Ihrer Gruppe zusammen. Jede*r vertritt eine Partei. Einigen Sie sich auf **konkrete Maßnahmen** in den drei Feldern. Wo geben Sie nach? Wo bleiben Sie hart?

Partei "Freiheit & Markt" (Liberal)

Ziel: Niedrige Steuern, Eigenverantwortung.
Forderung: Rente privatisieren, Bürgergeld kürzen, Pflege ist Privatsache.

Partei "Status & Familie" (Konservativ)

Ziel: Leistungsgerechtigkeit, Familie schützen.
Forderung: Rente nur für Einzahler, Mütterrente stärken, Subsidiarität.

Partei "Gleichheit & Staat" (Sozialdemokrat.)

Ziel: Umverteilung, Universalismus.
Forderung: Bürgerversicherung für alle, hohe Mindestrente, staatliche Pflegevollversicherung.

Reflexion für das Plenum:

Welches Modell hat sich im Kompromiss durchgesetzt? Ist das Ergebnis kohärent oder ein "fauler Kompromiss"? Wie würde sich dieser Mix auf die Klient*innen der Sozialen Arbeit auswirken?

Ausblick auf die nächste Sitzung

Am **Dienstag, 09.12.2025**, schließen wir den Kurs mit dem Thema:

"Quo vadis Sozialstaat? Aktuelle Herausforderungen & Klausurvorbereitung"

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!