Modul DSBSOZSP01
Sozialpolitik
Tag 1: Einführung: Definition, Ziele und Prinzipien der Sozialpolitik
Felix Niemann, B.A. | 06.10.2025
Heutige Agenda & Lernziele 📝
Ablauf der Vorlesung
- Sozialpolitik als "Sozialpolitik an der Basis"
- Warum Sozialpolitik? Legitimation & Spannungsfelder
- Die normativen Grundlagen: Die drei Säulen der Gerechtigkeit
- Die "Werkzeuge": Instrumente & Handlungsprinzipien
- Praxistransfer: Gruppenarbeit & Diskussion
- Zusammenfassung & Ausblick zum Selbststudium
Lernziele des Tages
- ... die Notwendigkeit von Sozialpolitik für die Gesellschaft und die Soziale Arbeit zu begründen.
- ... die normativen Grundprinzipien (Eigenverantwortung, Solidarität, Subsidiarität) zu erklären.
- ... die zentralen Instrumente (Versicherung, Versorgung, Fürsorge) voneinander abzugrenzen.
- ... die Bedeutung dieser Grundlagen auf einen Praxisfall der Sozialen Arbeit anzuwenden.
Sozialpolitik & Soziale Arbeit: Zwei Seiten einer Medaille
Sozialpolitik ist das Fundament unserer täglichen Arbeit. Sie definiert die Spielregeln, die Ressourcen und die rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir agieren. Wir als Sozialarbeitende sind nicht nur passive Ausführende, sondern agieren an der Schnittstelle zwischen den Lebenswelten unserer Klientel und den staatlichen Systemen. Wir sind die Akteure der **"Sozialpolitik an der Basis"**.
„Sozialpolitik entscheidet Zielkonflikte zwischen widerstreitenden sozialen Interessen bei der Bewältigung gesellschaftlich anerkannter Problemlagen und der dafür notwenigen Zuteilung materieller und immaterieller Ressourcen.“
Dieses Verständnis ist entscheidend, um unser **doppeltes Mandat** professionell auszufüllen: Einerseits handeln wir im Auftrag des Staates und der Gesellschaft. Andererseits sind wir Anwälte für die Interessen und Rechte unserer Klientinnen und Klienten. Die Kenntnis der sozialpolitischen Grundlagen befähigt uns, diesen anspruchsvollen Spagat zu meistern.
Lektüre zur Vertiefung:
Fehmel (2022): Einleitung: Soziale Arbeit als Sozialpolitik an der Basis (S. 15-18)
Warum Sozialpolitik? Legitimation & Grundkonflikt
Die moderne Gesellschaft trennt zwischen dem **privaten Markt**, der auf wirtschaftliche Freiheit und Wettbewerb setzt, und dem **öffentlichen Staat**, der für Ordnung und Sicherheit sorgt. Doch der Markt allein produziert nicht nur Gewinner, sondern schafft auch soziale Risiken (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut), die der Einzelne nicht allein bewältigen kann. Hier entsteht der Bedarf für staatliche Intervention – für Sozialpolitik.
Das ewige Spannungsfeld: Primat der Politik vs. Primat der Ökonomie
Jede sozialpolitische Debatte kreist um diese grundlegende Frage:
Primat der Ökonomie
Sozialpolitik soll primär die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern und nur als "Reparaturbetrieb" für Marktversagen dienen.
Primat der Politik
Sozialpolitik ist ein eigenständiges Gestaltungsfeld, das soziale Ziele wie Gerechtigkeit, Teilhabe und Menschenwürde über reine Marktlogik stellt.
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 1 "Einleitung" (S. 1-7). Hier wird die Legitimation des Sozialstaats und seine Infragestellung grundlegend diskutiert.
Eilauftrag aus der Staatskanzlei
Wir unterbrechen die Vorlesung für eine aktuelle Entwicklung: Die Staatskanzlei hat uns soeben mit der Ausarbeitung einer Bundesratsinitiative beauftragt. Alle Informationen zur anstehenden Gruppenarbeit finden Sie unter dem folgenden Link:
Die normativen Grundlagen: Die drei Säulen der Gerechtigkeit ⚖️
Unsere Sozialpolitik ruht auf drei historischen Säulen, die unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen repräsentieren.
1. Eigenverantwortung
Herkunft: Liberalismus, Bürgertum
Die Idee der **Leistungsgerechtigkeit**: Der Einzelne ist für sein Wohlergehen verantwortlich. Soziale Sicherung soll die individuelle Leistung widerspiegeln.
➔ Äquivalenzprinzip: Die Höhe der Rente hängt von der Höhe der eingezahlten Beiträge ab.
2. Solidarität
Herkunft: Arbeiterbewegung
Die Idee der **solidarischen Gerechtigkeit**: Die Gemeinschaft trägt die Risiken des Einzelnen. Die Starken helfen den Schwachen.
➔ Solidarprinzip: Beiträge nach Einkommen, Leistungen nach Bedarf (z.B. Krankenversicherung).
3. Subsidiarität
Herkunft: Kath. Soziallehre
Die Idee der **vorleistungsfreien Gerechtigkeit**: Hilfe ist nachrangig (zuerst Selbsthilfe/Familie, dann der Staat), aber für Bedürftige ein unbedingter Anspruch zur Wahrung der Menschenwürde.
➔ Fürsorgeprinzip: Bedarfsgeprüfte Hilfe als letztes soziales Netz (z.B. Sozialhilfe).
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 2.2.3 bis 2.2.5 und die zusammenfassende Abbildung 2.1 (S. 17-35).
Die "Werkzeuge" der Sozialpolitik I: Die drei großen Systeme
Diese drei Systeme bilden das Grundgerüst unseres Sozialstaats. Ihre Logik zu verstehen ist für die Beratung von Klient*innen fundamental.
Versicherung (Vorsorge)
Logik: Erworbener Rechtsanspruch durch Beitragsleistung.
Finanzierung: Beiträge (AN & AG).
Beispiele: Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Pflegeversicherung.
Versorgung (Entschädigung)
Logik: Rechtsanspruch aufgrund eines besonderen Opfers für die Gemeinschaft.
Finanzierung: Steuermittel.
Beispiele: Beamtenversorgung, Kriegsopferversorgung (BVG).
Fürsorge (Hilfe)
Logik: Nachrangiger Rechtsanspruch bei nachgewiesener Bedürftigkeit.
Finanzierung: Steuermittel.
Beispiele: Sozialhilfe (SGB XII), Grundsicherung (SGB II).
Lektüre zur Vertiefung:
Boeckh et al. (2017): Kapitel 3.3.1 "Instrumente" (S. 154-158).
Fehmel (2022): Abbildung 11 (S. 108).
Die "Werkzeuge" der Sozialpolitik II: Zentrale Handlungsprinzipien
Innerhalb der Systeme wirken handlungsleitende Prinzipien, die oft im Widerspruch zueinander stehen und die Ausgestaltung der Leistungen im Detail bestimmen.
Äquivalenzprinzip
"Gleiche Leistung für gleiche Beiträge". Stärkt die Eigenverantwortung, verfestigt aber auch Ungleichheit.
Solidarprinzip
Leistung nach Bedarf, nicht nach Beitrag. Beiträge nach Leistungsfähigkeit. Bewirkt Ausgleich.
Kausalitätsprinzip
Die Zuständigkeit des Trägers richtet sich nach der **Ursache** des Problems. (z.B. Arbeitsunfall vs. Freizeitunfall).
Finalitätsprinzip
Die Leistung richtet sich nach dem zu erreichenden **Ziel**, unabhängig von der Ursache. (z.B. Hilfe zur Selbsthilfe).
Praxistransfer: Gruppenarbeit (45 Minuten) 🤝
Fallbeispiel: Die Situation von Frau Müller
Frau Müller, 42, ist alleinerziehend mit zwei Kindern (8 und 12 Jahre alt). Sie arbeitet seit 5 Jahren in Teilzeit (20 Std./Woche) im Einzelhandel für **13,50 €/Stunde**. Der Kindsvater zahlt unregelmäßig Unterhalt.
Aufgrund einer schweren Erkrankung ist sie seit 8 Monaten arbeitsunfähig. Nun läuft ihr Krankengeldanspruch aus ("Aussteuerung"). Ihr wurde gekündigt.
Frau Müller ist verzweifelt. Sie weiß nicht, wie sie die Miete und den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder in Zukunft bestreiten soll.
Arbeitsauftrag in Kleingruppen
Zeit: 20 Minuten Gruppenarbeit, anschließend 25 Minuten Diskussion im Plenum.
Risiken identifizieren
Welche sozialen Risiken treten ein?
Prinzipien anwenden
Wo wirken die drei Gerechtigkeitsprinzipien? Wo gibt es Konflikte?
Rolle der Sozialen Arbeit
Welche Systeme (Versicherung, Fürsorge) müssen Sie aktivieren?
Vertiefung & Selbststudium 📚
Die Vorlesung kann nur Impulse geben. Die entscheidende Auseinandersetzung findet im Selbststudium statt.
Pflichtlektüre
- Boeckh et al. (2017):
Kapitel 1, 3.1, 3.3. - Fehmel (2022):
Kapitel 2.
Zur Vorbereitung auf die nächste Sitzung
- Boeckh et al. (2017):
Kapitel 2.1 bis 2.4. - Fehmel (2022):
Kapitel 4.1 und 4.2.
Ausblick auf die nächste Sitzung
Am **Dienstag, 07.10.2025**, setzen wir unsere Reise in die Geschichte fort mit dem Thema:
"Historische Retrospektive der deutschen Sozialpolitik Teil I: Von den Anfängen bis zur Weimarer Republik"
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf unsere nächste Veranstaltung!